Hohe Preise, zu wenig freie Wohnungen und Enge haben dazu geführt, dass grosse Städte an Bevölkerung verlieren. Die Pandemie hat diesen Trend beschleunigt. Wie wohnen und leben wir morgen? Der deutsche Zukunftsforscher Matthias Horx sieht die «Rurbanisierung» als neuen globalen Trend – ein Mix aus Dorf und Stadt.
- Rurbanisierung: kurz erklärt
- Wendepunkt für Stadt und Land
- Megatrend: Zoom-towns
- Anzeichen in der Schweiz
- Tourismus & Immobilien: Longstay in den Bergen
- Rurbanisierung: Checkliste
- Generation Z: so wohnen wir morgen
Mit dem Wohnen ist es anscheinend kompliziert geworden. Früher jedenfalls gab es mehr Klarheit: Hier ein Ort zum Wohnen und Leben, da die Wirtschaftszentren mit den Arbeitsplätzen und allem, was eine gute Stadt ausmacht (Kultur, Freizeit, Shopping, Sport etc.). Und die schönste Zeit des Jahres war der Urlaub, den die meisten Menschen gerne nochmals ganz woanders verbrachten. Diese Balance ist durcheinander geraten.
Das Leben ausserhalb der Zentren gilt wieder als verheissungsvoller Gegenentwurf zur Grossstadt. Manche Leute haben genug von Grossüberbauungen, Hektik, Lärm und Gedränge an der S-Bahn-Station. Etwas mehr Grün rundherum, frische Luft und Abstand sind neue entdeckte Qualitäten! Der deutsche Zukunfts- und Trendforscher Matthias Horx sagt dazu: «Die Corona-Krise führt zu einer Abschwächung des Zuzugs in die Metropolen.» Er beobachtet eine klare Wanderungstendenz hin zu ländlichen oder kleinstädtischen Regionen und Lebensformen.
Rurbanisierung: kurz erklärt
«Hochverdichtete Siedlungskonglomerate» würden zusehends als suspekt und bedrohlich wahrgenommen, so der Trendforscher Horx. Die Stadt und die Kultur von morgen prägt er den Begriff «Rurbanisierung».
- Rural = ländlich
- Urban = grossstädtisch
Wohnen auf dem Land wird ein Stück weit «verstädtert», und die Stadt muss mehr von dem bieten, was das Leben auf dem Dorf so reizvoll macht. Viele Leute wünschen sich, dass man sich auf der Strasse grüsst und nachbarschaftliche Kontakte knüpft – ohne dass es gleich zu einer Reizüberflutung in einer grossen Metropole kommt. Aber auf eine gewisse Vielfalt und die Annehmlichkeiten des Stadtlebens möchte man dann doch nicht verzichten. Das ländliche Wohnen wird neu erfunden.
Rurbanisierung: Wendepunkt für Stadt und Land
In welchen Kontext müssen wir die Rurbanisierung stellen? Krisen stellten in der Vergangenheit immer zugleich einen Wendepunkt dar. Horx vertritt mit der Rurbanisierung die These, dass wir ein neues Kapitel aufschlagen. Vielleicht ähnlich wie nach der letzten grossen Pandemie in den Jahren 1918 bis 1920: Die Überwindung der Krise war zugleich der Wendepunkt zur Unbeschwertheit und zur Aufbruchstimmung der 1920er-Jahre. Mit dem Wandel veränderte sich das Gesicht einer Stadt. Es entstand eine neue Architektur, in den Städten wuchsen neue Versammlungsräume, Kinos, Sportstadien und grosse Theater.
Fallbeispiel USA
Im Fokus der aktuellen Debatte rund um die Rurbanisierung sind derzeit die USA: Während es für viele Menschen bisher eine Notwendigkeit war, in New York, San Francisco oder in einer anderen grossen Stadt zu wohnen, zeichnet sich jetzt ein Umbruch ab. Kurz gesagt sprechen die Immobilienfachleute und Trendforscher hier von Zoom-Towns. Dies ist eine Mischung aus den Worten Boomtown und Zoom, also den Videokonferenzen, die heute für viele Menschen zum Arbeitsalltag gehören. Die grossen Tech-Giganten in Kalifornien und überhaupt viele Arbeitgeber dehnen die Möglichkeiten fürs Home Office deutlich aus (Remote Work). Eine unmittelbare geografische Nähe zwischen der Firma und dem Wohnort ist nicht mehr unbedingt zwingend.
Megatrend: Zoom-Town in den USA
Die US-Wirtschaftszeitschrift «Fast Company» spricht von rasch wachsenden neuen «gateway communities». Dabei handelt es sich meist um Gemeinden mittlerer Grösse mit etwa 25’000 Einwohnern. Typisch für den US-Trend ist weiter: Die Leute ziehen gerne in Ortschaften, die zugleich eine Nähe zu Nationalparks, schönen Naturlandschaften, Ferien- und Skiresorts versprechen. Für viele Leute ist dies die neue Lebensperspektive: Sie arbeiten individueller, an einem Ort bzw. in einem Haus, das «remote-friendly» ist (zeit- und ortsunabhängig). Zugleich locken gleich vor der Haustüre Sonne, Ruhe, Aussicht und herrliche Naturlandschaften. Dies ist eine völlig neue Perspektive für eine ausgeglichene Work-Life-Balance. Vor allem junge Amerikaner sind dermassen begeistert davon, dass sie in den Zoom-Towns gleich sesshaft werden und ein eigenes Haus kaufen. Viel günstiger als in New York, dafür mit mehr Fläche und mindestens einem Zimmer mehr.
Nehmen wir als Beispiel eine ganz durchschnittliche junge Familie aus New York: Ben, der Vater, ist Marketingberater. Die Mutter Susan arbeitet freiberuflich als Autorin. Kürzlich haben sie ihr 90 Quadratmeter Appartement in New York verlassen und kauften ein eigenes Haus in Saugerties. Die Gemeinde ist rund zwei Autostunden nördlich von der Metropole entfernt, mitten in einer prächtigen Landschaft am Hudson. «Das Zimmer für unseren 3-jährigen Sohn und auch die Terrasse sind viel grösser», freut sich Susan. Viel Grün, der eigene Garten und eine nette Nachbarschaft liegen direkt vor der Haustür. Wir schliessen daraus: Dies ist offenbar die amerikanisch gefärbte Vision der Rurbanisierung – jedenfalls ein klarer Trend raus aufs Land, der von einer neuen Kultur in der räumlichen Entwicklung kündet.
Kleine und mittlere Zentren im Aufschwung
Auch in der Schweiz sind die Anzeichen nicht mehr zu übersehen. Die meisten Fachleute sind überzeugt, dass «Home Office» oder vielleicht auch dezentrale Geschäftshäuser mit Co-Working nicht bloss vorübergehender Natur sind. Hervé Froidevaux, Ökonom bei Wüest Partner in Genf, sagt dazu: «Wenn die Leute nicht mehr täglich ins Büro in die Stadt pendeln, verändert sich vieles.» Der Experte stellt die These auf, dass dies mittelfristig eben nicht nur den Markt für Büros verändert, sondern längerfristig auch das Wohnen. «Wir stellen zum Beispiel eine verstärkte Nachfrage nach vergleichsweise preiswerten Kaufangeboten in den kleineren und mittleren Zentren oder teils sogar in Richtung Berge fest», so Hervé Froidveaux. Kleine und mittlere Zentren rechnen mit neuen Impulsen. Das gilt übrigens auch für das lokale Gewerbe: Der Laden oder Friseur gleich um die Ecke wird umso mehr geschätzt, je weniger die Leute in die Stadt pendeln.
Auch wenn Rurbanisierung in den Ohren vieler Leute abstrakt klingt – der Wandel schlägt sich bereits in Zahlen nieder. Bei den Suchabos von grossen Online-Portalen ist der Anteil Immobilien ausserhalb der Städte und mit mehr eigenem Umschwung gestiegen. Bezeichnend ist auch die Tatsache, dass in ganz bestimmten Gemeinden die Immobilienpreise noch deutlicher ansteigen als anderswo. Das gilt etwa für den Raum rund um Laax und Obersaxen im Kanton Graubünden oder auch im Unterwallis. Kurz, die Leute ziehen dorthin, wo schöne Naturlandschaften innerhalb nützlicher Frist erreichbar sind.
Tourismus & Immobilien: Longstay in den Bergen
Übrigens stehen auch neue Hotelangebote unter einem anderen Vorzeichen. «Arbeite dort, wo die anderen ihren Urlaub verbringen!» so der Slogan. Immer mehr Hotels im In- und Ausland bieten zu attraktiven Konditionen einen Longstay an. Warum nicht gleich für einige Wochen mit dem Laptop ins Hotel, bevor einem «die Decke auf den Kopf fällt?» Schweiz Tourismus hat zum Beispiel neu die Kategorie «Bed ’n‘ Bureau» eingeführt. https://www.myswitzerland.com/de-ch/unterkuenfte/hotels/bed-n-bureau/
Vor allem für begeisterte Wintersportler eine reizvolle Vision: Warum nicht Mal in der Mittagspause kurz die Langlaufskis anschnallen und direkt vor dem Haus ein paar Runden drehen?
Viele Trendforscher bringen die Idee der Zoom-Towns natürlich mit der jungen Generation in Verbindung (Generation Z). Gut möglich, dass sich die Anforderungen ans Wohnen – ob Stadt oder Land – auch je nach Lebensphase stark verändern.
Ob nun gerade die dörfliche Idylle oder eine pulsierende Grossstadt angesagt sind, hängt auch von an sich typischen Wellenbewegungen, den Preisen und dem Jobangebot ab. Der Zürcher Immobilienexperte Bernhard Ruhstaller sagt dazu: «Die Anziehungskraft der Städte wird wohl bleiben.» Er kann sich aber vorstellen, dass die typischen Vororte in den grossen Agglomerationen an Bedeutung gewinnen: Wenn zum Beispiel auch die grossen Firmen ihre Standorte dorthin verlagern, wenn die Orte gut erschlossen sind und alles zum Leben bieten – dann werden sich sehr viele Leute bevorzugt dort niederlassen.
Rurbanisierung: Checkliste
Vorübergehend oder auf Dauer
Machen Sie sich Gedanken, ob Sie die Stadt tatsächlich längerfristig verlassen wollen. Je nach dem gehört auf Ihre Checkliste auch die Frage, ob sich der Ort für Kinder eignen würde (Schulen, Bildungsangebot, Kultur, Freizeit, Gymnasium, allenfalls Hochschule etc.).
Immobilienmarkt
Wenn ein Ort tatsächlich eine Sogwirkung entfaltet («Boom-Town»), steigen dort die Land- und Immobilienpreise. Machen Sie sich kritisch ein Bild davon, ob die Preise am Wunschstandort temporär stark gestiegen sind. Vielleicht blüht Ihnen ein Szenario, dass der Ort allzu rasch wächst (viele Neubauten, Bevölkerungsanstieg, Zunahme des Verkehrs etc.). Im ungünstigsten Fall hätten Sie wieder ähnliche Nachteile wie in einer Stadt.
Home Office
In jedem Fall müssen Sie sich Rechenschaft darüber ablegen, ob Sie wirklich der Typ für eine sehr individualisierte Lebens- und Arbeitsform sind. Manche Leute vermissen dann doch die sozialen Aspekte eines Teams. Oder sie empfinden lange Distanzen zu Freunden und Verwandten als Nachteil.
Arbeitgeber
Genauso wichtig ist die Grundfrage, ob später nicht doch eine häufigere Anwesenheit bzw. eine Präsenz in der Firma notwendig werden könnte. Sprechen Sie sich mit dem Arbeitgeber oder mit Ihren wichtigsten Auftraggebern ab (für Selbstständigerwerbende).
Longstay & Services
Viele Berufstätige träumen davon, mit Blick auf eine tolle Bergkulisse oder auf einen sonnigen Strand zu leben und zu arbeiten. So boomen unter anderem auch hybride Hotelangebote, Serviced Appartements etc. Das Gesamtpaket mit allem Drum und Dran umfasst nicht nur Fläche und ein gutes W-Lan! Checken Sie, welche Services wirklich wichtig für Sie sind und mit welchen Kosten Sie rechnen müssen (Reinigung, Wäsche, Freizeit und Sport, administrative Arbeiten, IT & Support, Verpflegung etc.).
Weitere Informationen rund um Wohntrends von morgen lesen Sie in unseren Beiträgen Generation Z: So wohnen wir morgen und HOffice: Co-Working bei sich zuhause.